Heimkehr

[Mych] Es ist Dienstag, der 4. November, 3 Uhr morgens — gestern war mein Geburtstag. Auf dem Fußabtreter hinter der Haustür liegt der erwartete Berg an Post, die sich im Laufe der letzten drei Wochen angesammelt hat.

Drei Wochen Ausnahmezustand.

Freitag, 31. Oktober, nachmittags. Meine Mutter fährt mit uns zum Pflegeheim. Wir haben den Vormittag und den Tag davor damit verbracht, ihr Zimmer dort ein bisschen wohnlicher einzurichten — ein paar hübsche, kleinere Möbel noch aus der Japan-Zeit meiner Eltern; ihr Fernseher; ihre neue Couch.

Es ist uns allen bewusst, dass dies der einzige Weg ist. In dem großen Haus kann sie nicht alleine bleiben. Sie fühlt sich gefangen dort, sagt sie, und das ist nachvollziehbar: Mehrere Stufen führen zur Haustüre hoch, und den Weg in den Garten versperren mehrere unüberwindliche Schwellen. Das Haus war noch nie rollstuhlgeeignet, und die Rampe vor dem Haus war schon immer nur eine Notlösung.

Auch das Pflegeheim ist nur eine Notlösung. Anfang des Jahres wird sie in betreutes Wohnen umziehen — in eine Eigentumswohnung auf dem gleichen Gelände. Von ihrem Balkon aus wird sie ein bisschen in die Schweiz hinüber sehen können. Anfang nächsten Jahres soll die Wohnung bezugsfertig sein. Noch viel zu tun bis dahin. Immerhin etwas, auf das man sich freuen kann.

Mittwoch, 22. Oktober. Meine Tage bestehen aus Telefonieren und Autofahren. Der Audi meines Vaters ist fast so alt wie das Haus, aber er fährt noch gut. Ich spreche mit dem Anwalt, der Bank, der Immobilienverwaltung.

Judith ist da. Ich bin so froh, dass Judith da ist. Sie kam mit dem ersten Flug, den sie bekommen konnte, nachdem wir an meinem ersten Abend hier vor einer guten Woche telefoniert hatten. Wir hatten meine Mutter aus dem Krankenhaus geholt, in dem sie vom Kriseninterventionsdienst des Roten Kreuzes untergebracht worden war, um versorgt zu sein. Unsere kleine WG im Haus meiner Eltern funktioniert recht gut — wir halten zusammen. Wir machen das Beste aus unserer Lage.

Montag, 20. Oktober, früher Nachmittag. Die Leute aus der Gärtnerei haben sich viel Mühe gegeben: Eine schöne, geschmackvolle, schlichte Kombination aus rot melierten Wildrosen und grünen Blattgewächsen ziert den Raum.

Die junge Pfarrerin schreitet durch den Gang und bleibt vorne kurz stehen. Ich habe einen Kloß im Hals. Meine Mutter sitzt neben mir, im Rollstuhl, und hält meine Hand — oder ich ihre. Die Glocke, die draußen vor der Türe minutenlang geschlagen hatte, verklingt langsam. Eine ältere Frau sitzt an der elektrischen Orgel und spielt; schöne, klassische Musik.

Die Pfarrerin erzählt von meinem Vater — das, was wir ihr am Samstag zuvor unsererseits über ihn berichtet hatten: ein zufriedener, ruhiger, bei allen beliebter Mann, dem es immer am wichtigsten war, dass seine Familie gut versorgt war. Der nie ein Wort der Klage hören ließ. Der meine Mutter über Jahre alleine in dem großen Haus versorgte, seit sie ihren Schlaganfall gehabt hatte.

Es sind viele Leute gekommen. Die meisten kenne ich — einige von ihnen sehe ich zum ersten Mal seit langen Jahren. „Tante Heidi“. „Onkel Bernd“. Mein ehemaliger Schulrektor. Alte Freunde der Familie; alte Freunde von meinem Vater.

Sonntag, 12. Oktober, zur Mittagszeit. Judith und ich sind in der Türkei und machen im Mittelmeer unseren ersten Tauchgang.

Im Kreiskrankenhaus Lörrach stirbt mein Vater an den Folgen einer inneren Blutung.

Heimkehr

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