[Mych] Langsam und beharrlich schiebt sich der kurze Zug die Gleisstrecke hoch, die sich den Berghang entlang um den Holmenkollen windet.
Vor einer halben Stunde, als wir noch im Tiefgeschoss des Osloer Hauptbahnhofs gewartet hatten, hatten wir uns noch gewundert, warum dieser Zug nur halb so lang wie alle anderen sein sollte. Jetzt sehen wir es auch: Je höher wir kommen, desto häufiger bleibt beim Halt die Hälfte der Wagentüren zu, weil die Bahnsteige zu kurz sind; und mir ist ohnehin schon nicht ganz klar, wie die Bahn sich hier ohne Zahnrad den Berg hochziehen kann.
Wir haben uns, einer Empfehlung folgend, auf die linke Seite gesetzt und werden zwischen den Bäumen mit einem grandiosen Ausblick aufs sonnenüberflutete Oslo belohnt.
Ich habe eine vage Erinnerung an Lillehammer bei unserem ersten Ziel des heutigen Tages – an den ‚kleinen Berghang‘, wo in antiker Vergangenheit, circa 1994 unserer Zeitrechnung, olympische Winterspiele veranstaltet worden waren –, aber meine Erinnerung führt mich fehl: Der Holmenkollbakken, die große Skisprungschanze auf dem ‚Hügel beim Holmenhof‘, hat nur in noch viel fernerer Vergangenheit einmal an irgendwelchen olympischen Ereignissen mitgewirkt. Das ‚Mekka des nordischen Skisports‘ ist die gewaltige Schanze nichtsdestotrotz.
Ich fahre selbst gerne Ski, ganz so wie der König (nur vielleicht weniger königlich-stilvoll), aber der Reiz des Skispringens bleibt mir ebenso im Verborgenen wie der der meisten anderen Sportarten im Fernsehen. Meine eigene Erfahrung im Skifliegen beschränkt sich auf kurze, rare ‚Oh, Mist‘-Momente auf der Piste am Ende eines langen Skitags mit dem zweifelhaften Erfolg, danach einen Teil meines Equipments von irgendwo hangaufwärts wieder zusammensuchen zu müssen. Von einer Struktur, von der aus sich Leute auf Latten im Parabelflug an Zuschauerrängen vorbei schleudern lassen, erwarte ich mir am Morgen noch nicht soo viel.
Nach einer knappen halben Stunde Bahnfahrt kommen wir an. „278 moh.“, sagt das Schild am Bahnsteig – fast dreihundert Meter über Meereshöhe, wo wir unsere Reise begonnen hatten. Das untere Ende der Schanze liegt nochmal höher. Da führt uns kein Zug mehr hin; nur noch ein Fußweg am Rande einer schmalen Straße.
Wir pilgern hoch, zusammen mit einer Handvoll anderer Touristen, und stehen schließlich im Schatten der Schanze, die sich über uns auftürmt.
Ein paar Schritte entfernt steht eine Kapsel auf fauchenden hydraulischen Beinen, die in ihrem Bauch gerade rabiat ein halbes Dutzend Leute im Rhythmus einer World-Cup-Skiabfahrt durchschüttelt. Daneben der Eingang zum Skimuseum am Holmenkollen. Wir gehen rein.
Wir tauchen in das Museum ein wie in eine andere Welt. Eine Treppe führt uns nach oben in einen runden Raum, in dem wir über die ersten Skikompanien des norwegischen Militärs im 18. Jahrhundert und ihre unterschiedlich langen Skier lernen. Modelle zeigen uns die Historie der Schanzenkonstruktionen am Holmenkollen. Die ersten lagen noch im natürlichen Hang des Bergs; erst später beugte man sich auch in Norwegen der aus den USA kommenden Mode, von künstlichen Strukturen aus zu springen – eine Abscheulichkeit in den Augen der norwegischen Zeitgenossen. Ein Gang führt an handgefertigten antiken Skiern mit aufwendigen Verzierungen vorbei. Ein Nebenraum befasst sich interaktiv mit der Klimaveränderung und ihrem Effekt auf Norwegen.
In einem kleinen Kino betrachten wir einen kleinen Dokumentationsfilm über die Aurora Borealis, die ‚Dämmerung des Nordens‘, die wir in Island schon selbst erlebt hatten.
Eine weitere Treppe führt uns zu einer Aufzugstür, vor der schon eine kleine Handvoll anderer Leute warten. Wir warten mit und steigen schließlich in einen Lift ein, der meiner anfänglichen Vorstellung von einer Zahnradbahn schon näher kommt: Eine kleine Gondel fährt uns in steilem Winkel den Hals der Schanze hoch. Zwischen den Stahlstreben bietet sich uns ein fantastischer Ausblick aufs Hinterland.
Oben angekommen schauen wir erst noch für ein paar Minuten zwei jungen Männern im Sicherungsharnisch zu, die mit nicht völlig entspanntem Grinsen im Gesicht warten müssen, bis sie endlich am Stahlseil hängend den guten Drittelkilometer bis zum Ende der Landezone hinunter jagen können. Das wäre schon mehr so mein Ding, aber an die Zipline übers Eden Project kommt das hier dann doch nicht ran.
Noch eine kurze Treppe höher sind wir am Gipfel der Schanze. Der Rundumblick ist atemberaubend.
Wir fahren zurück in die Stadt zum Hauptbahnhof und gehen von dort aus zum Operahuset i Oslo, dem neuen Opernhaus, dessen weißes Marmordach sich wie ein Eisberg sanft aus dem Meer erhebt.
Schwäne paddeln am Ufer des Operndachs. Der Weg nach oben ist nicht sehr steil, aber nicht ohne Tücken: Immer wieder ziehen sich flache Stufen in unregelmäßigen Winkeln und Abständen quer über den rauen Stein. Das Empfinden einer Wanderung durch die Berge Norwegens soll der Weg über die Strukturen heraufbeschwören; und: Die hohe Kultur des Opernhauses will sich nicht auf einem Podest präsentieren, sondern sich der Bevölkerung buchstäblich unterordnen. Ein schöner Gedanke. Für mich zumindest funktioniert er gut.
Nach dem Abstieg haben wir noch ein paar Stunden totzuschlagen, bevor wir wieder zurück zum Flughafen müssen.
Vom Operndach aus hatten wir eine kleinen Sammlung dreieckiger Holzstrukturen am Ufer gegenüber des Hafens gesehen und begeben uns neugierig dorthin. Die Häuser erweisen sich als Teil von Salt, einem ’nomadischen Musik- und Kulturprojekt‘, das sich dieser Tage gerade im Hafen von Oslo niedergelassen hat. Eine der Holzkonstruktionen stellt sich als weltgrößte mobile Sauna heraus, von deren oberer Etage aus man, im hölzernen Liegestuhl sitzend, einen begeisternden Ausblick aufs Meer haben muss. Die Norweger lieben ihre Saunas einfach. Finde ich sympathisch und nachvollziehbar.
Wir saunen nicht, sondern trinken nur ein Bier im Halbschatten des ‚Solarbaums‘ vor dem aus Treibholz zusammen gezimmerten Bar-Häuschen, und sinnieren über die letzten paar Tage. Nächstes Mal, wenn wir wieder nach Oslo kommen, nehmen wir uns ein Hausfloß, und wir schauen uns den ganzen Rest an. Versprochen.