Der Trek in die Innenstadt

[Mych] Der Freitag ist noch jung und der Kühlschrank leer, also planen wir einen ersten Einkauf in der neuen Stadt. Claire hatte uns auf die nahe gelegene Einkaufsstraße hingewiesen, denn die Innenstadt sei doch schon recht weit entfernt — mindestens zehn Minuten Fußweg, sehen wir auf der Karte; vielleicht sogar zwölf?

Aber wir lassen uns ja nicht so leicht schrecken und wappnen uns für die lange Wanderung. In der Innenstadt haben wir nämlich den nächst gelegenen Tesco identifiziert — die einzige englische Supermarktkette, mit der wir schon (aus London) Erfahrung gemacht haben. Bei Tesco gibt’s einfach alles, sagt uns unsere Erinnerung.

Unser Trek führt uns entlang einer Parkanlage zu einer schmalen Metallbrücke über die Bahngleise, auf denen wir gestern in die Stadt gefahren sind. Durch die dünne Asphaltschicht sieht man stellenweise den stählernen Untergrund hindurchblitzen. Weiße Fahrbahnmarkierung reserviert den rechten Dreiviertelmeter für Fahrräder, den linken für fußläufige Menschen. Wir versuchen, eine Familie mit einem kleinen Jungen zu überholen, der fröhlich versonnen auf dem Mittelstreifen balanciert; er entkommt uns ein paar Mal, aber am Ende lassen wir die drei dann doch hinter uns.

Ungefähr parallel zu den Schienen verläuft eine breite Straße, die wir mit Hilfe einer geräumigen Unterführung unterqueren können. Es sind einige Leute unterwegs. Zwei junge Männer kommen uns entgegen, die sich angeregt und gut gelaunt auf Chinesisch unterhalten. Coventry scheint eine ganz schön international bevölkerte Stadt zu sein. Dafür sprechen auch vielen Geldüberweisungsläden und Wechselstuben, an denen wir in den nächsten Minuten vorbeikommen. Ich hatte Coventry bis jetzt noch nie als touristisches Ziel wahrgenommen.

Wir gehen durch eine weitläufige Fußgängerzone, die offenbar die komplette Innenstadt einnimmt. Alles ist voller Menschen und Geschäfte. Der erste „£1“-Laden fällt mir noch auf, aber nach dem vierten habe ich sie schon ins Stadtbild eingeordnet. (Offenbar gibt es hier mindestens zwei konkurrierende Ketten: Eine verkauft alles für £1, die andere alles für 99 Pence. Sicherlich einschließlich aller Artikel, die woanders billiger wären.) Ebenfalls auffällig ist die grüne „Deichmann“-Leuchtschrift an einem Schuhladen; die internationale Bäckerei, die sich den Verkauf von ausländischen Brotspezialitäten (mit Kruste, in Abgrenzung zum typisch englischen Brot, nehme ich an) auf die Fahnen schreibt; die Statue für jene Lokalberühmtheit, die offensichtlich vor 200 Jahren eine Art Easy Rider im Hochrad-Look erfunden hat; die Crêpes-Bude, die „Pancakes“, und die Würstchenbude, die metrische Längen von „Bratwurst“ und „spicy Krakauer“ verkauft; und der schiere Umstand, dass jetzt gerade, kurz nach 17 Uhr, mindestens die Hälfte der Läden bereits geschlossen hat, und die restlichen ihnen das um halb sechs gleichzutun versprechen. Wir müssen uns also beeilen.

Mit Hilfe unseres Mobiltelefon-GPS entdecken wir den angepeilten Tesco Express an einer Straßenecke. Der Laden ist winzig und eng. Ich muss eine Zahnbürste kaufen, aber Zahnbürsten sind aus. Ersatzweise lege ich „20 Flapjack Bites“ in den Einkaufskorb, weil ich sowas noch nie in Deutschland gesehen habe. (Ich werde mich sowieso im Laufe der nächsten zwei Jahre durch all die unbekannten Dinge durchfuttern müssen, die ich hier so in den Ladenregalen entdecke.) Judith greift an der einzeln verpackten Küchenrolle vorbei zum Doppelpack, und wir legen noch Nudeln und eine Nudelfertigsoße in unseren Korb; die Idee, selbst eine kochen zu können, geben wir angesichts des Nicht-Angebots von Zwiebeln auf. An der Kasse werden unsere paar Artikel ungefragt in nicht weniger als vier Plastikbeutelchen eingetütet, die wir danach in unseren mitgebrachten Rucksack stopfen.

Meiner Zahnbürstenmisere können wir — kurz vor Ladenschluss um 17:30 Uhr — dann zum Glück noch im nahe gelegenen Drogeriemarkt entkommen; dort herrscht das geschäftstypische Überangebot an in jeder denkbaren, irrelevanten Dimension unterschiedenen Zahnbürstenmodellen. Nach kurzem verwirrten Grübeln über deren relative Vorzüge greife ich nach dem Modell mit dem ergonomischst aussehenden Griff. Im nächsten Regal finde ich Duschgel und Deo der Marke, deren deutscher Markenname im Englischen nach Waldarbeiter oder mittelerdischem Zwerg klänge und die hier daher „Lynx“ heißt. („For a deeper clean, use a Manwasher!“ — das Marketing ist jedenfalls identisch.)

Der Trek in die Innenstadt

Landfall

[Mych] Der Flug aus Frankfurt ist ruhig — nur zwischendurch gibt’s zwei- oder dreimal für ein paar Minuten etwas Ruckelei. Die letzte halbe Stunde vor dem Landeanflug fliegen wir offenbar durch eine massive Nebelbank: gleichförmiges, diffuses Hellgrau in alle Richtungen, und das Flugzeug liegt so ruhig in der Luft, als sei es am Himmel festgenagelt. Erst Momente vor dem Aufsetzen kann ich schemenhaft Dinge auf dem Grund erkennen. Minuten später stehen wir am Gate und warten darauf, rausgelassen zu werden. Und ich weiß immer noch nicht, wie Birmingham von oben aussieht.

Hinter dem Ausgang wartet Judith schon auf mich. Ihr Flug aus Berlin war schon drei Stunden früher angekommen, und sie hat die Wartezeit irgendwie am Flughafen totgeschlagen. Gemeinsam gehen wir den Schildern nach in Richtung der „AirLink“-Verbindung zum Bahnhof, die sich als vollautomatisierte, unbemannte Einschienenbahn herausstellt. Die Fahrt dauert nur drei Minuten. Schade eigentlich; die Aufzugmusik da drin war so nett.

Am Bahnhof kauft Judith für uns beide Bahnfahrkarten nach Coventry — für ganze £2.20 pro Person; meine Nahverkehrsfahrkarte in Frankfurt zum Flughafen war teurer gewesen. Allerdings soll ja auch die Reise von Birmingham nach Coventry kürzer ausfallen als meine vom Stadtrand Frankfurt zum Flughafen Frankfurt. Ein Zug ist uns gerade vor der Nase weggefahren, aber der nächste kommt schon ein paar Minuten später. Judith wuchtet ihren knapp unter 23 Kilo schweren Rucksack-Trolley die steilen Einstiegsstufen hoch. Wir machen uns nicht die Mühe, uns Sitzplätze zu suchen; nicht für 9 Minuten Fahrtzeit.

Auch in Coventry regnet es in Strömen. Wir haben noch genug Zeit bis zum vereinbarten Treffen mit Judiths neuen Vermietern; unter anderen Umständen wären wir wahrscheinlich gelaufen, aber bei diesem Wetter nehmen wir lieber ein Taxi. Fragen tun sich auf: Sollten wir hierzulande in das Taxi am vorderen Ende der Schlange einsteigen? Und: Wo ist das vordere Ende der Taxischlange? Während wir noch mit unseren interkulturellen Unsicherheiten hadern, hupt uns der uns am nächsten stehende Taxifahrer an und bedeutet uns, einzusteigen. Ich suche sowas wie eine Kofferraumklappe am Heck des Fahrzeugs, aber vergebens: Das Taxi besteht aus einem Drittel Fahrerkabine, zwei Drittel Fahrgastraum (mit genug Platz für all unser Gepäck), und null Prozent Kofferraum.

Judith nennt die Adresse. Das Taxi vor uns in der Schlange und seine kompliziert einsteigenden Fahrgäste werden von unserem Fahrer mit routinierter Verärgerung kommentiert, dann umschifft er sie einfach und es geht los. Wegen der beschlagenen Scheiben im Fahrgastraum können wir gar nicht so viel nach draußen schauen, aber die Fahrt dauert auch nur wenige Minuten. Ich übergebe dem Fahrer eine £5-Note aus Judiths Geldbörse (inklusive Trinkgeld) durch die Durchreiche zur Fahrerkabine. Der Fahrer bedankt sich nett („Thank you very much indeed!„) und fährt im Regen davon.

Judith hat sich dem Wetter angemessen ausgestattet und hat eine regendichte Kapuze — ich habe meine natürlich zu Hause gelassen und flüchte in den winzigen, unverschlossenen Windfang des Hauses, das wir als das richtige ausgemacht haben. Es gibt keinen erkennbaren Klingelknopf, also klopfe ich laut gegen die Holztür. Nichts tut sich. Ich versuche es ein weiteres Mal. Judith kramt derweil die Rufnummer von Claire, ihrer Vermieterin, heraus und erreicht sie tatsächlich. Ein kurzes und etwas verwirrtes Telefonat entspannt sich, aber jedenfalls will Claire „in einer Minute“ da sein.

Es dauert länger als 60 Sekunden, aber tatsächlich taucht kurz darauf ein Minibus mit einer jungen Frau am Steuer auf, der in der Einfahrt hält. Was ich auf den ersten Blick für ein grünes Kopftuch halte, sind ihre Haare. Sie kommt uns mit einem freundlichen Grinsen entgegen, begrüßt uns fröhlich und schließt uns die Vordertüre auf.

Der enge, verwinkelte Flur führt an einer anderen Wohnungstür vorbei (offensichtlich des Appartments in Richtung Straße) und mündet in der Tür zu Judiths neuer Unterkunft. Während sie uns durchs Haus führt, entschuldigt sich Claire gut gelaunt für ihre staubigen Klamotten — sie käme gerade von der Baustelle eines anderen Hauses. Heute ziehen noch drei andere Leute bei ihr ein. Im Flur hängt ein ausgedruckter Zettel mit den Namen der Mietgäste, und Claire erzählt über jeden von ihnen ein bisschen was. In einer der Wohnungen in der oberen Etage wohnt der einzige Langzeitgast, Trevor, der übrigens in einem Chor singt.

Hinter Judiths Wohnungstür (die sie übrigens nicht abschließen soll, wenn sie weg geht, wegen der Feuerwehr) finden wir erstmal weitere anderthalb Meter Flur mit Kleiderhaken und der Tür zum Badezimmer. Claire steckt ihren bezopften Kopf ins Bad und freut sich, dass es tatsächlich gereinigt worden ist.

Durch die Tür am Ende des Mini-Flurs kommen wir dann endlich in den Schlaf-, Wohn-, Koch- und Essbereich: Ein Raum von ungefähr 20 Quadratmetern, die vorderen zwei Drittel mit dickem Teppichboden ausgelegt, das hintere Drittel (abtrennbar mit einem bodenlangen Vorhang) ist die Küche mit einem runden Esstisch in der Ecke. Im Wohnbereich steht ein breites Bett und eine Doppelcouch mit einem netten, niedrigen Couchtisch davor. Auf der Kommode auf der anderen Wandseite steht eine Blumenvase mit einem weißen synthetischen Blumenstrauß und ein possierlicher kleiner Flachbildfernseher von etwa DIN-A4-Ausmaßen. Direkt daneben lässt sich etwas erkennen, was wohl einmal ein Kamin gewesen sein muss, aber die davor geschraubte Pressspanplatte unterbindet weitere Benutzung. Ähnlicher handwerklicher Charme findet sich noch an einigen anderen Stellen in der Wohnung: Die Mittelbefestigung der Gardinenstange in der Mitte des Raums ist ein bisschen asymmetrisch mit einem unbehandelten Stück gehobelter Baumarktlatte mit drei Spaxen in die Decke geschraubt; und die weiße Wandbemalung der (mit einem Blumenmotiv texturierten) Tapete im Küchenbereich lässt ihre ursprüngliche Farbe — hellblau, wie im Wohnbereich — deutlich durchschimmern.

Claire weist auf den sehr schönen Ausblick durch die Terrassentür auf den Garten hin — naja, hm, sicherlich noch sehr viel schöner, wenn’s nicht gerade in Strömen regnet, gibt sie zu. Da steht seitlich eine kleine Holzbank, die bei besserem Wetter (und höheren Temperaturen) zum Verweilen einlädt. Auf dem Rasen befindet sich ein Klettergerüst aus bunt lackiertem Metallrohr und ein kleines Trampolin, in das jemand ein Loch gehüpft hat. Claire zaubert von irgendwoher den Papierkram hervor. Judiths Miete war schon zuvor vereinbart; mein Zusatzbeitrag sollte eigentlich £25 pro Woche betragen, aber da ich ja in diesem Monat nur an zwei Wochenenden da sein werde, ist Claire mit dem einfachen Betrag völlig zufrieden. Schlüssel werden übergeben — gegen £5 Schlüsselpfand, das wohl höchstens den schieren Wiederbeschaffungswert abdecken dürfte; offensichtlich verschwinden Schlüssel regelmäßig mal in alle Ecken der Welt, weil sie versehentlich von ausziehenden Mietern mitgenommen werden. Die gemeinsame Vordertür des Hauses darf nur zugezogen, nicht abgeschlossen werden, denn man kann den von außen verschlossenen Riegel von innen nicht öffnen. Gut zu wissen.

Die nächsten anderthalb Stunden verbringt Judith damit, ihren Koffer explodieren zu lassen. Nachdem die T-Shirts in der Vitrine deponiert sind (ein Kleiderschrank existiert nicht), der Fotokalender über dem Kamin aufgehängt wurde, die laut tickende elektrische Analoguhr zum Schweigen gebracht und das WLAN auf diversen Endgeräten eingerichtet wurde, fühlt sich die Wohnung schon fast wie ein Zuhause an.

Landfall