Der Erde so nah

[Mych] Die stürmische Brandung schlägt in der Entfernung gegen die Klippen; die Gischt der windzerzausten Wellen hüllt die Felsen in einen feinen Nebel wie einen Schleier.

Die Tasse in meinen Händen wärmt meine Finger, verströmt den willkommenen Duft frisch gebrauten Kaffees, der uns für die Anstrengungen des Tages stärken soll – die Abenteuer, denen wir uns heute aussetzen werden. Mein Blick schweift von der nahen Bucht in die Ferne, zu dem Leuchtturm, der unbeirrt sein Lichtzeichen gibt, an–aus, an–aus, treu und standhaft den Seefahrern ein Freund, und zu dem fast verloren wirkenden Segelboot, das sich aus der schützenden Nähe des Ufers hervorwagt in die kalten und unerbittlichen Weiten der See.

Der Rat hat gesprochen; die Entscheidung ist getroffen. Wir werden heute zu einer Exkursion gen Nordosten aufbrechen, nach Saint Austell, wo das Eden Project seinen Sitz hat. Wir packen unsere Vorräte, unsere nötigsten Ausrüstungsgegenstände, unsere Jacken und Taschen. Der Wagen fährt uns über gewundene Straßen, kreiselt durch Roundabouts, bringt uns über Hügel und Täler; wir waren gewarnt worden, nicht den kürzeren, gefährlich sich windenden Zuweg zu nehmen, den TomTom uns sicherlich führen würde, sondern die gut ausgebaute Straße den Schildern nach, und werden mit sechs Minuten der Verzögerung bestraft.

Endlich sind wir da. Der Wagen steht auf „Plum 3“. Wir prägen uns die Frucht und die Zahl ein – die Frucht: eine Pflaume, keine Limone, keine Banane; die Zahl: eine Drei, keine Vier, keine Zwei – die Fünf scheidet völlig aus. Unerträglich ist die Vorstellung, am Ende des Tages unseren Wagen womöglich nicht wiederfinden zu können, alleine dazustehen ohne unser treues Gefährt, unseren Skoda, der uns schon so weit auf unseren Reisen begleitet hat. Es sind einige Schritte bis zum Eingang von Eden; auf dem Weg treffen wir eine kleine Gruppe von Mitreisenden von einer anderen Frucht (oder Zahl), wie wir auf der Suche nach dem Zentrum, die sich dankbar von uns führen lassen, wiewohl auch wir nur raten können, welcher Weg der rechte ist.

Wir verlassen das Besucherzentrum in den Sonnenschein und erblicken die majestätischen Dome von Eden, die filigran wirkenden geodätischen Kuppen aus Thermoplastik und Stahl, die sich in die Tiefe der ehemaligen Kaolingrube schmiegen.

Ein sanft ansteigender Weg führt inmitten der Pflanzen entlang des Umkreises des Talkessels, bringt uns zu Konstrukten mit Informationen über den Kaolinabbau; zu einer kleinen Kuppel aus aufgeschichteten Steinen, in deren einzigem Lichtschacht eine Spinne ihr Netz gebaut hat; zu einer Hand, deren steinerne Finger aus dem hohen Gras kryptisch auf ein unerblickbares Ding deuten; zu einer überlebensgroßen Frau, die sich im Schatten der Bäume räkelt, ihre von Spiegelscherben gezierte rechte Gesichtshälfte kess gen Himmel gerichtet, die durch das Laubwerk scheinenden Bündel von Sonnenstrahlen reflektierend.

Wir begeben uns zur Talsohle und betreten das Gebäude, das die Lücke zwischen den gewaltigen Domen ausfüllt. Essen gibt es hier, und ja, es wäre uns willkommen, denn inzwischen ist die Mittagszeit gekommen und wieder gegangen; aber die Verlockungen halten uns nicht hier, sondern ziehen uns zur rechten Hand in die mediterrane Kuppel, die ein weiteres Restaurant verspricht – Paella, Pasta, Pizza soll es dort geben, die Schätze der Küche der Mittelmeerküste. Unsere Speisen sind wohlschmeckend und elegant angerichtet; eine Wohltat; ein Genuss. Kleine Vögel fliegen uns über die Köpfe, picken Krümel vom Boden, sitzen zwitschernd auf den Lehnen der leerer Stühle am Nachbartisch oder schauen uns keck an.

Wir beenden unser Essen und machen einen Rundgang durch das Gelände im Inneren der Kuppel – eine andere Welt; nur die Sonne am Himmel ist die gleiche. Wir sehen Pflanzen, die es sonst nirgends in Großbritannien geben kann; Weinreben, die man in Südfrankreich, Spanien, Italien erwarten würde; die Maquis, die den französischen Widerständlern im Zweiten Weltkrieg ihren Namen gab – jene, die sich in den unwegsamen, unwirtlichen Buschwäldern ihres Heimatlands verborgen hatten.

Der Weg zur anderen Kuppel führt erneut durch das verbindende Gebäude, zu einer elektrischen Schiebetür, die sich öffnet, als wir uns ihr nähern. Ein kräftiger Windstoß, fast eine Sturmböe, weht uns von achtern an, drängt uns gleichwohl in das tropische Biom. Unten ist es noch fast kühl, doch der Weg windet sich nach oben, an einem Teich vorbei; an den übergroß erscheinenden Pflanzen, die es nur in den wilden, wuchernden, lebensprallen Wäldern der Tropen gibt; immer höher geht es, immer drückender und feuchter wird die Atmosphäre, treibt uns den Schweiß auf die Stirn, lässt unsere Schritte immer träger werden.

Wir sind fast oben, können auf einer holzbeplankten Brücke durch die Wipfel der Bäume gehen – müssen bedauernd lesen, dass uns der Zugang zur Observationsplattform am höchsten Punkt der Kuppel verwehrt bleibt; vierzig Grad habe es dort, fast vierzig Prozent Luftfeuchte; zu groß das Risiko, dorthin zu gehen. Der Weg spaltet sich, bietet einen leichten Weg nach unten oder eine steile Treppe. Wir wählen den Weg zur Treppe und kommen an einem tosenden Wasserfall vorbei, von dem der wilde Bach gespeist wird, der sich durch den ganzen Lebensraum zieht, gekapselt in einer Hülle von Stahl und Kunststoff.

Die Stufen bringen uns wieder hinab; hinunter in mildere atmosphärische Schichten, vorbei an Installationen, die über die Schätze des Regenwalds informieren, an Bananenstauden und zum Trocknen gehängten Rohkautschukbahnen, zurück zu der elektrischen Schiebetür, bei der uns der vertraute und willkommene Wind entgegen weht und uns die Kühle verschafft, derer wir so lange entsagen mussten.

Der Erde so nah

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