Kein Regen auf den Orkaden

[Maus] Nachdem wir mit Vivi Oslo unsicher gemacht haben, ist unser Urlaub gerade einmal halb rum. Ein Hochzeitsgeschenk von Mark und René führt uns zum Orkney Folk Festival.

Von London aus geht es mit der Propellermaschine nach Aberdeen – die monochromste Stadt, die wir je gesehen haben. Alles ist aus grauem Granit gebaut und wirkt auf mich, als hätte jemand im Ausmalbuch noch nicht angefangen, auszumalen. Aber wir haben auch nicht viel Zeit, bevor unsere Fähre nach Kirkwall auf Orkney Mainland ablegt.

Sechs Stunden braucht die Fähre und kommt fast auf die Minute genau an. René ahnt zu diesem Zeitpunkt schon, dass unser Taxi trotz Vorbestellung gleich weg sein könnte, und so eilen wir hinaus – um sogleich feststellen zu müssen: Es gibt tatsächlich ein interessantes Problem. Der Taxifahrer versucht, insgesamt sieben Menschen in sein Auto zu bekommen, und trotz eines Notsitzes im Kofferraum will es einfach nicht gelingen, dass wir alle ins Auto passen. Immer wieder sagt er uns, er dachte wir wären nur zu viert (Spoiler: wir sind nur zu viert) und bemerkt nicht, dass ein weiterer Fahrgast, den er offenbar schon häufiger gefahren hat, diesmal zu zweit aufgetaucht ist. Schließlich einigen wir uns und wir vier werden zunächst mit dem Gepäck der anderen beiden Fahrgäste zu unserer Unterkunft gefahren.

Am nächsten Morgen machen wir uns auf den Weg nach Stromness, um unsere Leihräder abzuholen und das erste Konzert anzuhören. Wir hatten keine Vorstellung, was wir zu erwarten haben, aber nach dem ersten Beitrag von zwei älteren Damen, die mit langweiligen Melodien und stumpfsinnigen Texten zu beeindrucken versuchten, habe ich Sorge, ob ich den Rest ohne einzuschlafen überstehen kann.

Meine Sorge ist unberechtigt. Es folgen zwei sehr junge Bands – TRIP und Kabantu – und die rocken das Obergeschoss des Pubs, in dem das Konzert stattfindet. Von Kabantu sind wir so begeistert, dass wir ihr Album zwei Tage später kaufen werden.

Im Anschluss radeln wir zur orkneyischen Thingsite in Tingwall. Wir erwarten etwas Ähnliches wie auf Island vorzufinden und sind irritiert, als wir nur eine Geocaching-Dose finden. Unseren mit wunden Hintern erkauften Ausflug zur Thingsite begießen wir am Abend zurück in Kirkwall in einem niedlichen indischen Restaurant mit pinkfarbenen Wänden.

Für den nächsten Tag planen wir einen Ausflug zur italienischen Kapelle, die im zweiten Weltkrieg von italienischen Kriegsgefangenen erbaut wurde. Mit unfassbar viel Talent und Geschick wurde aus einer der hässlichen Barracken ein Kunstwerk geschaffen, das die Bevölkerung von Orkney so sehr mag, dass sie es sogar Jahrzehnte später von den Orginalerbauern restaurieren ließ. Unseren Hintern geht es derweil noch schlechter und wir entscheiden uns, zurückzufahren und lieber noch der Destillerie von Highland Park einen Besuch abzustatten.

Hier werden noch alle Herstellungsschritte vor Ort gemacht. Vom Mälzen auf Tennen, Darren mit Torf, Schroten und Maischen, übers Gären und schließlich das Destillieren und Lagern in Fässern. So umfassend war noch keine der Führungen, die wir bis dato mitgemacht haben. Highland Park Whisky ist noch dazu sehr süffig und sehr empfehlenswert.

Zurück in Kirkwall besuchen wir die St. Magnus-Kathedrale für ein weiteres Folkkonzert. Hauptakt des Abends ist Duncan Chisholm mit seiner Band. Es wird ein meditatives, sphärisches Konzert, das zum Träumen einlädt und den wunden Hintern vergessen macht.

Für unseren letzen Tag auf Orkney stehen ein paar historische Orte auf unserer Liste. Der Hintern schmerzt fast nicht mehr, als wir bei Maes Howe ankommen.

Vor etwa 5000 Jahren erbaut, ist von außen nur ein grüner Hügel zu sehen. Drinnen kann man ein beeindruckendes jungsteinzeitliches Grab besichtigen.

Große und kleine Steinplatten, die vom Strand hierher gezogen wurden, sind zu einer Halbkugel aufgeschichtet worden. Durch einen langen, ziemlich niedrigen Gang gehen wir Richtung Grabkammer. Dort angekommen kann man drei Kammern entdecken, die wohl zur Aufbewahrung von Knochen diente. Das allein wäre für mich ja schon spannend genug, aber hier gibt es auch noch Wikingergraffitis zu sehen. Als diese vor etwa 1000 Jahre die Orkaden anfingen zu besiedeln, haben in Maes Howe ein paar Wikinger Unterschlupf gesucht, als sie in einen Schneesturm gerieten. Und was macht man so, wenn man eingeschneit ist? Richtig, alte Grabstätten mit Graffitis verschönern.

Wir radeln weiter Richtung Westküste und kommen am Ring von Brodgar, einem Henge, entlang. Das ist mit 104 Metern Durchmesser sogar größer als Stonehenge und hier sehen wir auch die großen Steinplatten, die wir von Maes Howe schon kennen, wieder.

An der Westküste besichtigen wir zu guter Letzt Skara Brae und Skaill House.

Ein Sturm hat dort im Jahr 1850 an der Küste eine jungsteinzeitliche Ansiedlung freigespült. Auch hier wurden wieder große Steinplatten verwendet und am Strand sieht man nun auch, wo die herkommen. Der ganze Strand ist voll mit Steinplatten unterschiedlicher Größen und erinnert ein wenig an ein Baustofflager. Kein Wunder also, dass die Siedlung ausgerechnet hier gebaut wurde.

Skaill House gibt es seit etwa 1620, und es wurde über die Jahrhunderte immer weiter ausgebaut. Wir besichtigen das 1997 restaurierte Herrenhaus und machen uns auf den Weg nach Stromness, wo wir das Abschlusskonzert in der imposanten Town Hall anhören.

Ein letztes Highlight gibt es noch, denn wir checken am Abend auf der Fähre ein, die uns am Morgen nach Scrabster übersetzt. In unserer Viererkabine mit eigenem Bad verbringen wir die Nacht und stehen pünktlich zur Abfahrt auf, damit wir The Old Man of Hoy im Vorbeifahren sehen können.

Wir kommen wieder – es gibt noch viel zu erkunden.

Kein Regen auf den Orkaden

Island: Kontinentalplattenhopping

[Mych] Heute wird sich der Kreis schließen: Der Kilometerzähler unseres kleinen Škoda Fabia, den wir erbarmungslos über die kraterübersäten Schotterpisten gejagt haben, zeigt weit über zweitausend Kilometer mehr an als noch vor anderthalb Wochen, als wir ihn aus dem Flughafenparkplatz gefahren hatten. Heute fahren wir zurück nach Reykjavik.

Vorher werden wir aber noch einem der bedeutungsvollsten Orte auf Island einen Besuch abstatten: dem Þingvellir – dem Ort, wo sich tausend Jahre lang unter freiem Himmel einmal im Jahr, zur Sommersonnenwende, Menschen aus allen Ecken der Insel trafen, um Gesetze zu machen, Recht zu sprechen, zu handeln und zu feiern.

Þingvellir, der historische Ort, findet sich in Þingvellir, dem Nationalpark – und direkt auf der Grenze zwischen der eurasischen und der amerikanischen Kontinentalplatte. Das ganze Gebiet ist von aktiven Vulkanen durchsetzt, und die Schlucht Almannagjá, in der die das Althing besuchenden Menschen einmal im Jahr für zwei Wochen ihre Zelten und Buden aufstellten, ist in den letzten zehntausend Jahren um siebzig Meter breiter geworden: knapp ein Zentimeter jedes Jahr.

Wir spazieren, zusammen mit hunderten anderer Touristen, vom Aussichtspunkt in Richtung des Lögberg, des „Gesetzesbergs“ – so genannt und so gewählt, weil der Gesetzessprecher dort mit dem hinter ihm auftürmenden Schild aus Vulkanfelsen im Rücken seine Stimme kaum erheben musste, um von allen verstanden werden zu können, wenn er der Versammlung das jährliche Drittel aller geltender Gesetze zitierte.

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Auf unserem Pfad in die Schlucht zwischen den Kontinentalplatten hinein überqueren wir eine kurze hölzerne Brücke: Hier war vor ein paar Jahren unvermittelt ein kleines Loch im festgestampften Boden entstanden, und bei genauerer Untersuchung stellte man fest, dass sich darunter ein metertiefer Hohlraum befand, entstanden in Jahrhunderten der Kontinentaldrift.

Wir verlassen den großen Touristenstrudel am Besucherzentrum, fahren ein kleines Stück weiter und halten am Straßenrand nahe der Koordinaten eines Geocaches, den da jemand zwischen den Kontinentalplatten versteckt hat. Der Ort ist nicht ausgeschildert; wir sind fast alleine hier – ein paar vereinzelte Leute kennen den Geheimtipp offenbar auch und schauen ebenfalls neugierig in die tiefe Kluft, die die auseinanderdriftenden Erdplatten in den Felsboden gerissen haben.

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Und schließlich haben wir noch eine Aufgabe zu erledigen, die man uns zu Hause auf den Weg mitgegeben hat – unsere Island-Sweatshirts, handgefertigt mit Nähwana-Label, verkünden Geokoordinaten:

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Wir geben sie ins Navi ein und lassen uns führen – von der Ringstraße auf eine Nebenstraße, von der schließlich auf eine einspurige Schotterpiste, die schließlich in einen kleinen Schotterparkplatz mit Picknickbank mündet. Ein paar Schritte dahinter, hinter einem Zaun mit schafsicherem Wanderertreppchen, erhebt sich die Gischt eines Wasserfalls, den wir endlich mal ganz für uns haben: der Ægissíðufoss, so versteckt und beschaulich, dass noch nicht mal Wikipedia ihn kennt.

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Das GPS-Gerät führt uns zum Ufer des Flusses, aber wir sind immer noch hundert Meter entfernt von Ground Zero. Gegenüber erspähen wir eine Sitzbank: dorthin kommt man also auch, und unser Ehrgeiz ist geweckt, den Koordinatenpunkt genau zu finden. Wir nehmen uns das Navi zur Brust und finden die nächste Parkgelegenheit auf der anderen Flussseite, vier oder fünf Kilometer Fahrstrecke mit dem Auto entfernt.

Wir lassen das Auto am Ende eines Schotterwegs stehen und machen uns auf zu einem kleinen Spaziergang durch die Hügel und Wiesen, 700 Meter Luftlinie, entlang eines engen Trampelpfads am Ufer des Flusses entlang, der sich hier breit und gemächlich durch die Landschaft windet, wahrscheinlich auch in der Mitte kaum mehr als knietief.

Die Gischt des Wasserfalls ist schon von Weitem sichtbar. Unser Pfad führt uns direkt ans obere Ende des Falls, direkt zu den Steinplatten, die ins Wasser münden, bevor es über mehrere Stufen ein paar Meter in die Tiefe fällt. Irgendwer hat auf der anderen Seite eine Fischtreppe aus Beton an den Rand des Wasserfalls gebaut – ein ungewöhnlicher Anblick hier in Island. Wir grübeln, warum, und vermuten schlussendlich, dass das wahrscheinlich Anglern im Oberwasser zugute kommen soll.

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Wir setzen uns auf die Bank, nebeneinander, und blicken über unseren Wasserfall.

Island: Kontinentalplattenhopping